Montag, 10. Oktober 2022

Die Sehnsucht ...

 


... die nur in Träumen gestillt wird.

Ich träume, ich träume von einer Zeit die schon lang vorbei ist, doch in meinem Herzen, Gedanken und Erinnerungen noch immer sehr gegenwärtig.

Diese eine Straße, die an der Roßauer Kaserne liegt, im neunten Wiener Gemeindebezirk und an die Türkenbelagerung erinnert war ein herrliches Zuhause und das gleich zwei Mal in meinem Leben.


Als kleiner Säugling hab ich in einem Hinterhaus die Nachbarn nachts nicht schlafen lassen und bin später mit meinem kleinen Stofftier, Schnucki, barfuß am Wochenende vom 3. Stock ein Stockwerk tiefer gelaufen um meiner Lieblingstante einen morgentlichen Besuch abzustatten. Da stand ich dann nur mit meinen Sarah Kay Nachtkleid und Schnucki in der Hand vor ihrer Tür und wartete geduldig bis sie meinen Namen nannte und sagte "Bist Du's?" Die Tür öffnete sich und mit schnellen Schritten sprang ich in ihr Bett. Wir kuschelten und sie wärmte meine kalten Füsse, sprachen über alles mögliche, was so ein Kindergartenkind erlebt und manchmal hörte ich ihrem gleichmäßigen Atem zu, wenn der Schlaf sie einholte, und wusste, hier bin ich geborgen.

Ein paar Jahre später als wir wegzogen, brach für mich meine kleine Kinder-Welt zusammen. Das Gefühl der Geborgenheit verschwand in diesem für mich neuen Arbeiterbezirk. Meine Großeltern wohnten zwei Straßen entfernt, doch die kannte ich kaum und sehnsüchtig erwartete ich die Wochenenden, die manchmal einen Besuch in meiner vertrauten Gegend geplant hatten. Diese wurden immer weniger. Ich vergaß wo dieser Ort war, ich kannte den Namen der Straße und in meiner Erinnerung war alles da, aber ich wusste nicht, wo es war in diesem großem Wien. 


Es mussten wieder ein paar Jahre vergehen, da nahmen mich Nachbarn zu einem Ausflug am Kahlenberg mit. Und da, auf einmal sahs ich mit plattgedrückter Nase in der 38ziger Straßenbahn und schaute mir die Augen aus. Alles kam mir bekannt vor, alles Häuser, die ich kannte, ich war Zuhause, mein Herz sprang ich wollte aussteigen und zu dem großen Tor laufen, dass ich selber kaum öffnen konnte und rufen, "Hallo, ich bin wieder da!" Zum aussteigen kam es nicht und so fuhr die Straßenbahn weiter an der großen Votivkirche vorbei, wo dahinter mein Kindergarten war. An dem schönen alten Hotel Regina, wo ich oft beobachtete welche feinen Damen und Herren hineinspazierten. Drei oder vier Straßenbahnstationen lang kannte ich jedes Haus, die Aufregung in meinem Herzen wurde zu einer Traurigkeit. Den Kahlenberg und die Heiße Schokolade hab ich an diesem Tag nicht genossen. Im Gegenteil ich hab darauf gewartet, dass wir wieder zurückfahren und ich "meine Straßen" wiedersehen kann. Den Nachbarn war ich zu traurig und sie haben mich nicht noch einmal mitgenommen. 

Erst viele Jahre später, ich war 14 Jahre alt und ein Schulwechsel hatte mein Leben verändert, fand ich "meine" Straße wieder. In einer längeren Mittagspause schlenderte ich in der Gegend herum, bis ich eine Straße erkannte. Da war früher eine Porzellan Manufaktur. Diese ging ich immer schneller entlang und mein Herz begann zu pochen. Auf einmal war er da, der kleine Spielplatz in "meiner" Straße, "mein" Haus. Ich setzte mich auf eine Bank und weinte vor Glück. Alles war noch so wie in meiner Kindheit nur ich fehlte in dieser mir so vertrauten Gegend. 

Meine Lieblingstante hatte ich jahrelang nicht mehr gesehen. In meinen Wünschen und Sehnsüchten hab ich mir, nach dem wir umzogen, oft vorgestellt, wie sie vor meiner neuen Schule stand um mich abzuholen, doch sie kam nicht. Die häufigen Besuche nahmen mit den Jahren ab und fanden dann gar nicht mehr statt. Es waren nur mehr Erinnerungen da. Erinnerungen die weh taten und gepaart waren von dem Gefühl der Einsamkeit. Wohlgefühlt hab ich mich nie in dieser Gegend, die meinem Vater so vertraut war. Er fühlte sich zu Hause,  war zurückgekehrt in seine Kindheitserinnerungen. Ich genoss die Ausflüge in den grünen Prater, die langen Spaziergänge, Radfahren und am Anfang tauchte ich sogar noch ins Rosenwasser, beim Heustadlwasser ein. Das Stadionbad war mir nicht geheuer und die Besuche dort kann ich an einer Hand abzählen.

Mitte Zwanzig, ich war in der Welt herumgekommen, habe in verschiedenen Europäischen Städten gelebt und gearbeitet, tauchte die Straße meiner Kindheit unerwartet wieder auf. Ohne danach zu suchen, wurde mir eine größerer Wohnung angeboten. Ich war im Mutterglück und das zum 1. Mal und wohnte in einer entzückenden Gassoniere in der Nähe vom Wilhelmine Berg. Es wehte fast immer der Meindl-Kaffeegeruch durch die Luft. 

Hab ich größere Wohnung geschrieben?, sie war herrschaftlich groß! Als mir der Name der Straße genannt wurde, begann mein Herz wieder zu pochen, ich konnte nicht schlafen und war total aufgeregt. Die Wohnung war diesmal nicht in einem Hinterhaus, sondern mit Blick auf die Kaserne. Ich erinnere mich, dass ich alle Flügeltüren öffnete und einige Male eine Runde durch die ganze Wohnung machte. Mir über meinen hochschwangeren Bauch streichelte und dachte, hier wirst du aufwachsen. Hier wirst Du das Leben kennenlernen in einer Gegend die mir so wichtig ist, wo ich mich so ganz zuhause fühle.


Der Umzug ging schnell und die erste Zeit waren wir wie verloren in der großen Altbauwohnung. Bewohnten nur 2 Zimmer und renovierten eines nach dem anderen, bis alle 4 Schlafzimmer und der große einladende Vorraum mit einem Gang um einen Lichthof der zur Küche und zum ehemaligen Dienstzimmer führte fertig war. Das Dienstzimmer wurde zu einem großzügigen Badezimmer mit Blick auf einen schönen Kastanienbaum.  Ein Zimmer wurde schnell vermietet, an Freunde, später Studenten und oft fanden auch Flüchtlinge den Weg zu uns. 

Die Sonne strahlte durch 9 große Fenster, die zur Straße blickten, nur die Küche blieb immer ein wenig finster, da durch den Lichthof nicht genug Sonnenstrahlen den Weg in den ersten Stock fanden. Soviel Schönes geschah in diesem Zuhause. Meine erste Tochter hat ihr kleines Bettchen dort bezogen, konnte ihre Schaukeln (wir hatten zwei), die im Türrahmen befestigt waren, stundenlang in beschlag nehmen, dazu wurde immer ein ungarische Kinderlied gesungen, dass schon meine Anyukam für mich und meine Schwestern sang. Leider sang sie viel zu kurz in ihrem Leben. Sie fühlte sich so wohl und war einige Male in der Woche zu Besuch. Nach ihrem Tod zog meine jüngste Schwester ein und mein erster Sohn wurde im Schlafzimmer, bei Kerzenlicht und Chopinmusik geboren. Das Haus hatte nach über 50 Jahren wieder eine Hausgeburt. Das ganze Haus freute sich mit uns und die alten Damen erzählten von früher. 

Alle Bewohner der 8 Wohnungen zogen nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Die früheren Mieter, flüchteten, tauchten unter oder wurden vergast, nur eine Frau hatte das Konzentrationslager überlebt und kam nach der Befreiung zurück. Meine Nachbarin, die am Ende des Krieges einzog, hat sehr oft darüber erzählt, wie diese ausgehungerte Frau vor der Tür stand und in ihre Wohnung wollte. Mich machte das immer sehr traurig, was ist wohl aus ihr geworden? Wo hat sie ein neues Leben beginnen können?

Bei uns war immer Platz, für jeden. Nach der Scheidung von meinem ersten Mann zog eine kleine Hündin ein, die mich viele Jahre begleitete. Es wurde gespielt, musiziert, gemalt und viele Feste gegeben. Besonders Weihnachten liebten wir alle. Der riesige Weihnachtsbaum fand seinen Platz in einer geöffneten Flügeltür zwischen dem Wohnzimmer und meinem Schlafzimmer. So konnten wir alle von beiden Seiten den Lichterbaum genießen. Die Kinder und ich in den dunklen späten Nachmittags- und frühen Abendstunden und ich ganz alleine verträumt, beim Schreiben, oder in Bücher schmöckernd nachts. 

Natürlich war nicht alles rosig. Zum Lachen gehört auch das Weinen, zum Freuen auch das Traurigsein, und so gibt es so manche Tage an die ich mich nicht gerne erinnere. Die Sommer waren hell und kühl. Die Winter waren definitiv kalt und wir sind in dicken Socken und Decken auf der Couch gesessen, zum Glück war den Kindern nie kalt. Abends wurden Kerzen angezündet und alle Türen geschlossen und wir versunken in Geschichten, Musik und waren nur glücklich zusammen zu sein. Das war das Allerwichtigste! Wir 4 gehören zusammen. 

Das waren herrliche Zeiten! 

Jetzt wo ich so darüber nachdenke huscht immer wieder ein Lächeln über mein Gesicht. 

Nachdem ich meinen 2. Mann kennenlernte und feststand, dass wir heiraten und in den Niederlanden leben werden, musste ich mich von diesem schönen Ort verabschieden. Leider reichte mein Geld nicht um diese Wohnung zu behalten, die Miete war viel zu hoch, für gelegentliche Besuche. Dieser Abschied ist mir sehr, sehr schwer gefallen. Mein ganzes bisheriges  Leben ging zu Ende und obwohl es mir gut geht und ich alles habe was ich brauche, werde ich diese Sehnsucht nicht los. Dieses Gefühl an damals ist in mir verankert und ich liebe es. 


In den ersten Herbstferien, die die Kinder an der neuen niederländischen Schule hatten fuhren wir nach Wien. Mir brach das Herz als ich am Haus vorbei ging. Zusammen mit Meneer van Duin huschten wir durch das schwere Eingangstor. Was er nicht wusste, ich hatte nicht alle Schlüssel abgegeben bei der Übergabe der Wohnung im Sommer. Was ich nicht wusste war, dass mit unserem Auszug die Miete der Wohnung mit 1000 Euro gestiegen war. Nachrichten verbreiten sich auch bis in die Niederlande. Unglaublich! Mit dem gezückten Wohnungsschlüssel ging es 2 Stockwerke hinauf, in den 1. Stock und standen vor meiner alten Wohnung. Ich nahm allen Mut zusammen, und probierte meinen  alten Schlüssel und er passte. Mit einem Dreh sprang die Tür auf und ich stand in meinem altem Vorraum. 

Ich erinnerte mich an das Erste Mal als ich durch diese Wohnung ging und ich so überglücklich war. Wir gingen durch alle Räume und durch mein inneres Auge sah ich nochmals alles so wie es Früher war. Gleich rechts, durch eine Dopel-Flügeltür ging es in das Zimmer meiner Schwester, welches vor ihrem Kommen vermietet war. Von dort führte eine Flügeltür in das Kinderzimmer wo es ein herrliches Krähennest zum Zurückziehen gab. Früher war dieses Zimmer meine Bibliothek und Arbeitszimmer. So hell und freundlich weil gleich 3 Fenster vorhanden sind. Vom Kinderzimmer kam man ins Wohnzimmer und von dort aus wieder in den Vorraum, oder man wählte die folgende Flügeltür in mein Schlafzimmer. Von dort aus gab es eine kleine Tapetentür ins Gästezimmer, welches davor das Babyzimmer war. Die nächste Tür öffnete sich zur Küche und danach gab es noch eine ins Badezimmer, welches viel, viel früher das Zimmer für die Bediensteten war, so wie auch das Gästezimmer. Alle Zimmer, außer die Toilette und das Bad hatten 2-3 Türen, den auch das Schlafzimmer hatte eine Türe zum Gang. Im Sommer waren alle Flügeltüren geöffnet und Marie-Louise und Isaac spielten sich durch alle Zimmer. 


Ich nahm ein Souvenir mit von diesem Besuch, 2 alte Schlüssel. Einen habe ich meiner Schwester geschenkt und einer liegt hier bei mir.

Nächste Woche, werde ich mit meinen zwei jüngsten Kindern, die in den Niederlanden geboren sind, "meine" Straße entlanggehen und ihnen meine Geschichten erzählen.

Auf bald, A.-Alexandra